* 4 *

4. Der Künftige

 

Zelda

Während Barney Pot im Langgang ausgeraubt wurde, beobachtete Tante Zelda von einem kleinen Fenster oben im Turm, wie Septimus abflog.

Sie sah, wie Feuerspei hoch in die Luft über dem Palast stieg und seinen dicken weißen Bauch vor die Sonne schob. Sie sah die Schatten seiner Flügel über den Palastrasen huschen, als er in Richtung Fluss flog, und sie sah, halb verdeckt von seinem herrlichen muskulösen Hals, die kleine grüne Gestalt auf seinem Rücken, die, wie es schien, nur mühsam das Gleichgewicht hielt. Sie sah, wie die beiden über dem gestreiften Zelt am Landungssteg drei Runden drehten und wie Alther Mella aus dem Zelt trat und ihnen zum Abschied winkte. Dann kniff sie ihre alten Augen zusammen und beobachtete, wie Septimus und sein Drache auf die Nebelbank zuhielten, die sich von Port heranschob. Als Drache und Reiter nur noch ein schwarzer Punkt am Himmel waren, stieß sie einen Seufzer aus. Wenigstens hatte Septimus jetzt den Sicherheits-Charm – nichts Geringeres als einen lebenden Sicherheits-Charm.

Tante Zelda wandte sich vom Fenster ab. Sie zog einen goldenen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn in das, was wie eine stabile Mauer aussah, und schritt in das Königinnengemach. Als sie in den stillen Raum trat, schob sie ihre Sorgen um Septimus beiseite und richtete ihre Gedanken auf den Jungen, der einst Septimus’ bester Freund gewesen war. In der Jungarmee waren Septimus und Wolfsjunge unzertrennlich gewesen – bis zu jener verhängnisvollen Nacht, in der Wolfsjunge aus einem Boot der Jungarmee fiel und in den schwarzen Fluten des Flusses versank.

Beim Rascheln von Tante Zeldas Kleid drehte sich Königin Cerys langsam in ihrem Sessel um und richtete den entrückten Blick ihrer dunkelvioletten Augen auf die Besucherin. Der Geist der Königin verließ den Raum nur selten, denn er bewachte den Königinnenweg. Es war ein ruhiges, sehr ereignisarmes Dasein, und der Geist verbrachte die meiste Zeit in einem traumähnlichen Zustand, aus dem zu erwachen bisweilen schwierig war.

Tante Zelda machte noch einmal einen Knicks und zog die lange silberne Röhre aus der Tasche. Beim Anblick der Röhre erwachte Königin Cerys vollends aus ihrer Verträumtheit, und neugierig sah sie zu, wie Tante Zelda das Stück Pergament entnahm, behutsam entrollte und auf die Lehne des Sessels legte, in dem sie saß.

»Dies ist für den neuen Künftigen Hüter, wenn’s beliebt, Euer Gnaden«, sagte Tante Zelda, die nichts davon hielt, Königinnen mit dem neumodischen »Eure Majestät« anzureden.

Königin Cerys war es gleich, wie man sie anredete, solange man höflich war. Wie ihre Tochter Jenna hatte sie es immer etwas lächerlich gefunden, mit »Eure Majestät« angesprochen zu werden, und Tante Zeldas Anrede »Euer Gnaden« war in ihren Augen nicht viel besser. Aber sie sagte nichts und betrachtete mit Interesse den Bogen Pergament.

»Ich hatte noch nie das Vergnügen, einen zu sehen, Zelda«, sagte sie mit einem Lächeln. »Meine Mutter hat niemals einen gesehen – meine Großmutter dafür zwei oder drei, glaube ich.«

»Ich glaube auch, Euer Gnaden. Das war eine Kette von Missgeschicken. Als Betty Crackle die Stelle übernahm, herrschte ein Riesendurcheinander. Die arme Betty. Sie hat ihr Bestes getan.«

»Davon bin ich überzeugt. Aber sie sind jetzt schon sehr lange Hüterin, Zelda.«

»Ganz recht. Seit über fünfzig Jahren, Euer Gnaden.«

»Oh, bitte, Zelda, nennen Sie mich einfach Cerys. Fünfzig Jahre? Die Zeit vergeht wie im Flug ... und doch so langsam. Und wen haben Sie auserkoren? Doch nicht eine von diesen Wendronhexen, hoffe ich?«

»Um Himmels willen, nein!«, rief Tante Zelda. »Nein, es ist jemand, der seit einiger Zeit bei mir wohnt. Eine junge Person, die, wie ich mit Freuden sagen kann, einen ausgeprägten Sinn für die Marschen und alle Dinge darin hat. Und die nach meiner Überzeugung einen guten Hüter abgeben wird.«

Cerys lächelte Tante Zelda an. »Das freut mich ungemein. Wer ist es?«

Tante Zelda holte tief Luft. »Äh ... Wolfsjunge, Euer Gnaden ... Cerys.«

»Wolfsjunge?«

»Ja.«

»Ein seltsamer Name für ein Mädchen. Aber die Zeiten ändern sich, wie es scheint.«

»Er ist kein Mädchen, Euer ... Cerys. Er ist ein Junge. Na ja, ein junger Mann, fast.«

»Ein junger Mann? Du liebe Güte!«

»Ich glaube, er würde einen wunderbaren Hüter abgeben, Königin Cerys. Und in der Hüteordnung steht nirgendwo geschrieben, dass der Hüter eine Frau sein muss.«

»Tatsächlich? Gütiger Himmel!«

»Aber die Entscheidung liegt selbstverständlich bei Ihnen, Königin Cerys. Ich kann nur vorschlagen und empfehlen.«

Königin Cerys saß da und blickte so lange ins Feuer, dass Tante Zelda sich schon fragte, ob sie nicht eingeschlafen sei, bis sie mit ihrer klaren, etwas hohl klingenden Stimme zu sprechen begann. »Zelda«, sagte der Geist der Königin, »ich bin mir bewusst, dass sich die Pflichten des Hüters geändert haben, seit das Drachenboot in die Burg zurückgekehrt ist.«

»Das ist wohl wahr«, murmelte Tante Zelda und seufzte. Sie vermisste das Drachenboot sehr. Es bereitete ihr Sorgen, dass das Boot ohne Bewusstsein tief im Innern der Mauern der Bootswerft lag, die einst eigens zu seinem Schutz errichtet worden war. Und obwohl dies bedeutete, dass Jenna die Burg nun jederzeit verlassen konnte, ohne sie in Gefahr zu bringen, schmerzte Zelda der Verlust des Drachenboots noch immer.

Die Königin fuhr fort. »Da sich die Pflichten des Hüters verändert haben, sollte sich, wie mir scheint, vielleicht auch die Natur des Hüters verändern. Wenn Sie also diesen Wolfsjungen empfehlen, will ich Ihren Vorschlag annehmen.«

Tante Zelda strahlte übers ganze Gesicht. »Und ob ich ihn empfehle, Königin Cerys. Ich empfehle ihn wärmstens.«

»Dann bin ich mit Wolfsjunge als Künftigem Hüter einverstanden.«

Tante Zelda klatschte aufgeregt in die Hände. »Oh, das ist wunderbar, einfach wunderbar.«

»Bringen Sie ihn zu mir, Zelda, damit ich ihn kennenlernen kann. Benutzen Sie dazu den Königinnenweg. Wir müssen wissen, ob er auf diesem Weg reisen kann.«

»Äh ... das hat er schon. Ich ... äh ... ich musste ihn schon einmal hierherbringen. Es handelte sich um einen Notfall.«

»Aha, gut. Er scheint bestens geeignet. Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen. Er hat die Aufgabe wohl schon erfüllt?«

Tante Zelda spürte ein ängstliches Kribbeln im Bauch. »Er ist gerade dabei, während wir hier miteinander sprechen, Cerys.«

»Ach. Dann werden wir gespannt auf seine Rückkehr warten. Sollte er tatsächlich zurückkehren, würde ich mich wirklich freuen, seine Bekanntschaft zu machen. Auf Wiedersehen, Zelda. Bis zum nächsten Mal.«

Ihre Freude darüber, dass die Königin ihren Lehrling akzeptiert hatte, wurde dadurch etwas gedämpft, dass die Königin die Aufgabe erwähnt hatte, die Tante Zelda für eine Weile aus ihren Gedanken verbannt hatte. Langsam rollte sie das Pergament zusammen und schob es in die Röhre zurück. Dann machte sie einen Knicks und ging quer durch den Raum zum Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte. Cerys sah zu, wie sie die Tür öffnete und sich hineinzwängte.

»Zelda?«, rief Cerys.

»Ja?«, keuchte Tante Zelda und steckte mit einiger Mühe den Kopf aus dem Schrank.

»Ist es möglich, dass man einen Vergrößerungszauber isst, ohne es zu merken?«

Tante Zelda blickte verwirrt. »Ich glaube nicht«, antwortete sie. »Wieso?«

»Nur so. Kam mir eben in den Sinn. Gute Reise.«

»Oh, vielen Dank, Königin Cerys.« Und sie wuchtete die Schranktür hinter sich zu.

Septimus Heap 05 - Syren
titlepage.xhtml
Septimus Heap 05 Syren 01_split_000.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_001.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_002.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_003.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_004.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_005.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_006.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_007.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_008.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_009.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_010.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_011.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_012.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_013.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_014.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_015.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_016.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_017.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_018.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_019.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_020.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_021.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_022.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_023.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_024.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_025.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_026.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_027.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_028.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_029.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_030.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_031.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_032.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_033.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_034.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_035.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_036.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_037.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_038.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_039.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_040.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_041.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_042.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_043.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_044.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_045.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_046.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_047.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_048.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_049.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_050.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_051.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_052.html
Septimus Heap 05 Syren 01_split_053.html